Besucher
der Vernisage vor den Frottagen "48 Bäume", Helga Beisheim,
2001 Foto: I. Beisheim |
Katalogtext zu den Arbeiten von Elisabeth Kessler-Slotta: |
Die
aus Schlesien stammende Künstlerin
Helga Beisheim konzentriert sich seit einigen Jahren auf Untersuchungen,
die Fragestellungen der Wahrnehmung und Ästhetik nachgehen. Im Umgang
mit Gegenständen aus der Alltagskultur entwickelt sie Konzeptionen,
die vertraute Sehgewohnheiten erweitern, um in einprägsamen Bildern
von sinnlicher Erscheinung neue Zugänge zu ermöglichen. Sie arbeitet
in unterschiedlichen Medien und sucht die Verwendung disparater Materialien,
sie ist Zeichnerin, Malerin, Fotografin. Exemplarisch zeugen davon Konzeptionen
wie die aus Fotografien und Stühlen bestehende Installation „Mensch:Objekt“ (1998-2000),
im Wechselspiel von Positionen das Verhältnis von Mensch und Stuhl
gegenüberstellend; der „Emder Farbkreis“ (1999/2000),
eine Farbcollage aus Fotografien, deren Motivfarben nach Gegenständen
von Emder Straßen, orientiert an den vier Himmelsrichtungen, geordnet
wurden; die „Farbe des Tees“ (2004), eine Farbverwendung schwarzer
und grüner Teesorten aus allen Teeanbaugebieten der Welt und die „Landschaftserfahrungen“ (2004),
eine Acrylmalerei auf Nessel, die Landschaftseindrücke in einer Sequenz
senkrecht verlaufender Farbstreifen transponiert. Seit der Ausbildungszeit
am Musischen Zentrum der Ruhr-Universität unter Hans-Jürgen Schlieker
stellt Bochum im Rahmen der Ausstellungsbiografie eine stets wiederholende
Station der inzwischen in Ostfriesland lebenden Künstlerin dar. Wie
bereits bei älteren Arbeiten zu beobachten war, spielt die Auseinandersetzung
mit der Zeit in Beisheims aktuellem Werk von neuem eine zentrale Rolle.
Bestehend aus einem grafischen und einem fotografischen Teil, variiert
es strukturell und methodisch das von vergleichbaren Gestaltungen bekannte
Vanitas-Thema. Das Ausgangsmaterial von „Jahre oder der 49. Baum“ bilden Einzelelemente der „48 Bäume“, einem im Jahr 2001 angefertigten Zyklus von Frottagen. Von 48 Baumscheiben, den Überresten einer im Jahr 1959 angepflanzten und 2001 gefällten Pappelallee, aus pragmatischen Gründen der vorwiegend landwirtschaftlichen Nutzung einer Straße in Beisheims Umgebung geopfert, hat die Künstlerin Frottagen im Format von einhundert auf einhundert Zentimeter angefertigt. Unter Berücksichtigung der Wetterseite sind nicht nur die Strukturen jedes einzelnen Baumes einfühlsam überliefert, sondern auch eine Fülle individueller Eigenarten wie differentes Wachstum, Krankheiten und Beschädigungen komplettiert den zeichnerischen Abdruck. Sogar die Nummerierung mit der jeweiligen Schlagzahl ist erfasst und zum selbstverständlichen Bestandteil der Dokumentation geworden. Mit Hilfe dieser speziellen Systematik und einem in der medizinischen Diagnostik ähnlichen Verfahren, was die Auswertung verschiedenartiger Merkmale betrifft, legt Beisheim quasi ein Archiv von „Lebensdaten“ zerstörter Pflanzen vor, deren Befunde vor allem ästhetische Wertschätzung genießen. Um formal eine adäquate Präsentation der achtundvierzig Frottagen in der Konstellation von je sieben Blättern in jeweils sieben Reihen zu gewährleisten, hat sich die Künstlerin entschlossen, den „49. Baum“ durch die eigene Person zu ergänzen. In der Identifikation mit dem Baum offenbart sich sowohl ein ganzheitliches kosmisches Naturverständnis als auch ein optisch dazu korrespondierendes Formempfinden. Inspiriert von den Jahresringen der Bäume verfolgt die Künstlerin im zweiten Teil ihres Werkes „Jahre oder der 49. Baum“ in der Konfrontation mit zweiundsechzig Schwarz-Weiß-Fotografien ihres Gesichtes eine Spurensuche ganz eigener Art. Um jedoch eine weitgehende Zurückstellung ihrer Peron zu erzielen, hat Beisheim von allen Aufnahmen, die sich jeweils auf eines ihrer Lebensjahre beziehen, Computerbearbeitungen sämtlicher Fotografien vorgenommen, um somit ein gewisses Maß an Neutralisierung zu gewährleisten, vom Scannen des jeweiligen Materials über die Freistellung jedes einzelnen Gesichtsausschnitts, einheitlicher Vergrößerung bis hin zum Ausdruck im Standartformat zehn auf zehn Zentimeter reichend. Dieser durchaus vom emotionaler Spannung begleiten „Reise in die Vergangenheit“ setzt sich die Künstlerin nicht aus narzisstischer Passion, sondern aus experimenteller Neugier aus, um Zeichen der Vergänglichkeit im Ausdruck des Gesichtes abzulesen, aber auch um in Analogie zu den Jahresringen der Bäume Spuren des Alterns im menschlichen Gesicht nachzugehen. Gleichwohl entbehrt die technisch objektivierte Zurschaustellung nicht eines gewissen Risikos, da die Preisgabe des Gesichts, dem „Spiegel der Seele“, voyeuristische Aspekte involviert. Die Zusammenschau von Frottagen einerseits und digitalisierten Fotografien andererseits macht trotz ästhetischer Angleichungen im Schwarz-Weiß-Kontrast die elementare Verschiedenartigkeit beider Gestaltungen deutlich. Während die Jahresringe der Bäume den Altersprozess mustergültig und objektiv nachprüfbar konservieren, verdeutlichen die Lebensquerschnitte im menschlichen Gesicht eine offenkundig differente Entwicklung. Die Vielfachfacettierung des Ichs scheinen nicht nur Merkmale von Wandlung preiszugeben, sondern darüber hinaus eine Form von Selbstbefragung zu enthalten. Auf der Suche nach dem Sichtbarmachen eines so komplexen Phänomens wie der Zeit spürt Helga Beisheim zugleich auch der Suche nach der eigenen Identität nach. Doch da die Erfahrung von Zeit, Geschichte und Vergangenheit nicht nur eine subjektive, die der Künstlerin selbst ist, sondern jeden Einzelnen berührt, können sie für den Betrachter im Dialog mit dem Werk „Jahre oder der 49. Baum“ spezielle, eigene Projektionen und Reflexionen entwickeln, die zu einer persönlichen Auseinandersetzung anregen. |